Jazz war schon immer mein Leben. Spontan und improvisiert, mal laut und mal leise. Schuld daran war nicht zuletzt die Lage meines Elternhauses. Denn es stand nahe am Gelände des „mœrs festival“, und seit meiner Jugend war ich alljährlich dorthin gepilgert, um den Jazzklängen zu lauschen. Mein Vater hingegen liebte Beatmusik, hatte sogar mit Anfang zwanzig eine Beatband mitgegründet. Deren Vorbilder waren The Spotnicks, The Shadows und The Ventures. Über Jahrzehnte hinweg trat die Band meines Vaters in Vereinsheimen im Revier auf. Doch dann fand er allmählich seine Griffe nicht mehr. Wir standen gemeinsam auf der heutigen Europaallee vor einer dreiflügligen Konstruktion, deren Dach aus Stahlbeton an ein überdimensionales Ypsilon erinnerte. Viele Jahrzehnte lang hatte in seiner Mitte ein Pförtnerhaus gestanden. Die drei markanten Flügel mit hochgebogenen Enden hatten an die Rotorblätter eines Helikopters mit dem Pförtnerbau als Pilotenkanzel erinnert. Doch 2012 war das Pförtnerhaus abgerissen worden. Heute war es ein Helikopter ohne Führung. Ein paar Lkws bretterten achtlos unter dem Betondach hindurch. Mein Vater wirkte verschlossen und in sich gekehrt. Ich war nicht sicher, was er von dem denkmalgeschützten, sanierten Bauwerk vor uns wirklich wahrnahm. Dabei hatte es eine solche Symbolkraft – für Blütezeit und Niedergang gleichermaßen. Ich stellte mich dichter neben meinen Vater, der mehr und mehr verängstigt wirkte. Dann holte ich einen Kopfhörer aus meinem Rucksack und setzte ihn ihm auf. Er versuchte das Gerät abzuschütteln. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und blickte ihm tief in die Augen. Dabei flüsterte ich ihm einige beruhigende Worte ins Ohr, bis ich das Gefühl hatte, dass er sich durch mich nicht bedroht fühlte. Erst dann drückte ich die Play-Taste und gab den Blick wieder frei. Auf das Werkstor des ehemaligen Krupp-Hüttenwerks in Rheinhausen … für ein anderes Das Gesamtwerk. Für 0,49 €.
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